„Wo ist denn hier das Kreuz?“ fragen sich manche, die zum ersten Mal in der Kapelle des Christlichen Klinikums Melle sind und sich dort irritiert umschauen, weil sie das typisch christliche Erkennungszeichen nicht gleich entdecken. Ohne Kreuz keine Orientierung. Das Kreuz ist das wichtigste Symbol unseres Glaubens, das Zeichen unserer Erlösung, die zweitausend Jahre vor unserer Zeit geschehen ist und doch jeden einzelnen heute betrifft. Und hier, an einem Ort, wo Menschen mit ihrer Krankheit, mit ihrer Begrenztheit, mit ihrem Schmerz und ihrer Schwachheit kommen, wo sie Halt, Verständnis, Ermutigung und Kraft suchen und zeichenhaft erwarten, da soll es kein Kreuz geben?
Wenn Sie zu diesen Suchenden gehören, laden wir Sie ein, sich ein paar Minuten zu gönnen und das Glasbild hinter dem Altar anzuschauen.
Auf den ersten Blick erkennt man nur ein Farbenwirrwarr. Es ist ein Meditationsbild, vor dem man erst einmal zur Ruhe kommen muss, das seine „Erlösungsbotschaft“ erst nach und nach freigibt.
Die Künstlerin Anja Quaschinski hat mit dunklen grau-blauen, chaotisch anmutenden Strichen die belastenden Gedanken und Gefühle eines schwerkranken Menschen eingefangen. Nicht wissen, wie es weitergeht. Angst vor der Zukunft, vor einer Entscheidung, vor einer Operation, vor Schmerzen, vor dem Sterben, vor dem Tod. Chaos, Verzweiflung, Dunkelheit.
Dahinter erscheinen dann drei breite intensive gelb-rote Farbbahnen, die eine senkrechte Ausrichtung vorgeben, Oben und Unten verbinden, Himmel und Erde, Göttliches und Menschliches. Sie strahlen Wärme und Leben aus. Hoffnung bricht durch. Die Ahnung, dass es noch mehr gibt, als nur die eigene subjektive, eingeschränkte Sicht auf die Situation.
Und dann plötzlich, nach längerem Betrachten dieses abstrakten Bildes erkennt man in roten gekratzten Farbresten einen Menschen in Kreuzesform aufscheinen. Vielleicht erst nur eine Hand oder einen Fuß, dann Beine und Arme, schließlich das Gesicht. Christus kommt dem Betrachter mit erhobenen Armen aus dem Bild entgegen, und man kann nicht genau erkennen, ob es noch der Gekreuzigte ist oder schon der Auferstandene.
Beides vereinigt sich in diesem Bild des Aufbruchs. Es ist ein wahres Osterbild. Es nimmt das Kreuz, das Leid ernst und lässt den Trost, die neue Hoffnung allmählich wachsen. Und es zeigt in seiner Nichteindeutigkeit, dass Auferweckung zum Leben manchmal Zeit braucht, vielleicht wiederholte Anläufe, bis man es wirklich wahr haben kann und akzeptieren will – oft gegen den eigenen Verstand. Plötzlich tut sich doch ein neuer Weg auf oder der Sinn des alten Weges wird langsam deutlich und wartet auf die persönliche Versöhnung mit ihm. Erlöst sind wir und doch müssen wir die Vollendung noch erwarten. So ist Ostern.
Dieses Bild fordert und lädt zum Vertrauen ein, zum vertrauenden Aufbruch mit Gott ins Leben – hier und jetzt und in das Leben, das wir das ewige nennen.
Ihr Krankenhausseelsorger
Diakon Martin Walbaum